Ich lebe von Krisen. Als Restrukturierungsberater verdiene ich mein Geld damit, Unternehmen dabei zu helfen, Krisen zu bewältigen. Eine Sache habe ich dabei gelernt: In einer Krise kommt immer all das hoch, was in den letzten Jahren nicht optimal gelaufen ist – egal, ob das nun was mit der akuten Krise was zu tun hat oder nicht. Die großen Dienstwagen und hohen Gehälter der Chefs mögen unangebracht, ungerecht und objektiv falsch sein – sie sind nicht Auslöser der Krise und für die Lösung selten relevant. Aber sie können die Diskussion bestimmen, auch wenn sie den Lösungsweg eher vernebeln. Vor allem, weil schnell der Eindruck entsteht, das Unternehmen hätte vor lauter Problemen keine Stärken, aus denen heraus es wieder erfolgreich werden kann. In der Bewältigung der Krise geht es darum, schnell die Stärken zu finden, aus ihnen Erfolg zu generieren und die Probleme dann eins nach dem anderen, strukturiert abzuarbeiten.
Deutschland hat aktuell ganz offensichtlich eine Krise zu meistern: Die Flüchtlingskrise. Wie in jeder Unternehmenskrise kommt dabei viel hoch, was mit der eigentlichen Krise nichts zu tun hat. Die Schwierigkeiten von Polizei und Justiz im Umgang mit Intensiv- und Wiederholungstätern gibt es nicht erst seit der Silvesternacht in Köln. Dito die mangelnde Unterstützung der Polizei durch die Politik. Rechtes Gedankengut und fortschreitende Europaskesis gibt es sicher nicht erst seit AfD und Pegida an Zustimmung gewinnen, aber sie treten vermehrt in die Öffentlichkeit, Herr Seehofer lässt grüßen. Die Politiknähe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist seit Jahren und Jahrzehnten ein Problem, zeigt sich aber akut an der Debatte über das Fernsehduell in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.
Das sind alles wichtige Themen – grade das letzte liegt mir persönlich sehr am Herzen – aber sie sind für die Bewältigung der Flüchtlingskrise irrelevant, auf jeden Fall nicht kriegsentscheidend. Nicht nur das: sie und die Debatte über sie sind – derzeit – schädlich.
Die eigentliche Flüchtlingskrise bringt genug Aufgaben mit sich: Es gilt, einer großen Anzahl Flüchtlingen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und ihnen einen Weg zum Aufbau einer Existenz und damit auch zur Integration aufzuzeigen. Das, ohne uns und unsere Lebensweise, unseren Sozialstaat, Rechtsstaat, was auch immer aufzugeben. Es gilt, die Flüchtlinge so zu steuern, dass alle Hilfsbedürftigen Hilfe bekommen, aber eben auch nur die. Und ja, es gilt, die europäischen Partner bei der Bewältigung dieser Aufgabe mit ins Boot zu holen. Das alles ist Herausforderung genug.
Dabei werden die Flüchtlingkrise selbst und ihre möglichen Folgen derzeit ein, zwei Nummern zu hoch aufgehängt. Merkel hatte schon Recht: Wir schaffen das. (Mehr dazu: hier). Bei aller Herausforderung, die die Flüchtlingskrise für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft mit sich bringt: Sie ist ganz sicher nicht der Untergang Deutschlands oder gar des Abendlandes. Den ruft zwar explizit nur der rechte Rand hervor, aber er findet sich in Form eines „wo führt das alles nur hin“ auch immer mehr zwischen den Zeilen seriöser Kommentatoren und leider auch in politischen Aussagen aus der Mitte. Das sprichwörtliche Spiel mit dem Feuer ist ein leider sehr greifbares Spiel mit der Angst geworden. Das ist nicht minder gefährlich. Vor allem, weil die Substanz der Krise den Alarmismus nicht hergibt.
Als würde dieser konkretere Alarmismus nicht ausreichen wird die Angst mit den oben angesprochenen zusärtzlichen Themen noch verschärft. Es entsteht der Eindruck, dass in der deutschen, der europäischen rechtsstaatlichen Demokratie aktuell weit mehr im Argen liegt, als „nur“ die Flüchtlingskrise. Ich will gar nicht bestreiten, dass sowohl in Europa als auch in Deutschland vieles schiefläuft und mehr oder weniger dringend zu ändern ist. Aber die derzeitige, häufig ungehemmte, im Stakkato daherkommende Kritik übersieht die Stärke der deutschen und europäischen Institutionen und der Zivilgesellschaft. Das wäre allles nicht schlimm, würde die Kritik damit nicht erst den Zustand schaffen, den sie kritisiert. Zivilgesellschaft und Institutionen leben vom Vertrauen in sie. Die aktuelle Kritik beschädigt das Vertrauen in einer ohnehin prüfenden Zeit.
Das soll keine Aufforderung zu einem „Burgfrieden“ sein, in dem keine Kritik mehr zugelassen ist. Aber es ist eine Aufforderung an Politik, Presse und die Öffentlichkeit mit Kritik verantwortlich und ruhig umzugehen. Wie das gehen kann: Auch das Positive sehen und beschreiben und es gegen die Kritik abwägen: Offene Grenzen bedeuten eben nicht nur schwer kontrollierbare Flüchtlingsströme, sondern auch freie Fahrt für Waren und Menschen (und für mich als Münchner: Kontrollfreies wochenendliches Skifahren in Österreich). „Europa“ ist eben nicht nur brüsseler Regelungswut, sondern Basis für Frieden und Wohlstand auch in Deutschland. Und ein Staat, der die Ereignisse von Köln ganz zu unterbinden vermag, ist, wenn er denn überhaupt möglich ist, ganz sicher ein Polizeistaat, in dem wir nicht leben wollen. Gleiches gilt für einen Staat, der vorsichtshalber wegsperrt – oder abschiebt.
„The only thing we have to fear is fear itself.“ sagte Franklin D. Roosevelt in seiner Antrittsrede als US-Präsident. Er hatte eine der, wenn nicht die, größte politische und gesellschaftlichen Krise vor sich, die je ein Politiker zu bewältigen hatte: die Weltwirtschaftskrise. Und er hat sie mit dieser Haltung bezwungen. Deutschland und Europa sollten sich das jetzt mehr denn je zu Herzen nehmen. Denn nichts schwächt unsere an sich starke und belastbare Zivilgesellschaft mehr, als die Angst, sie zu verlieren. Unsere westliche Wertegemeinschaft überlebt viel besser, wenn wir sie einfach leben und sie nicht aus Angst, sie zu verlieren, in der bayerischen Verfassung niederschreiben.
Was das konkret heißt: hilfsbedürftige Menschen, gleich welcher Religion und Herkunft willkommen zu heißen. Trotzdem Karneval und Silvester in aller Freizügigkeit zu feiern. Nackte Statuen unverhüllt zu lassen, egal, wer daran vorbeiläuft. Die Verfolgung und Verurteilung von Straftätern der Polizei und der Justiz zu überlassen. Nicht in mediale oder poltische Empörung zu verfallen, um mehr Leser oder Wählerstimmen zu bekommen. Auch Menschen, die verquere und falsche Meinungen haben, zu Wort kommen zu lassen in der Überzeugung, dass die bessere Idee gewinnt – was sie meistens, wenn auch auf Umwegen, tut. Vertrauen darauf zu haben, dass ein Staat, der effektiv prüft, ob nur mit Angellizenz geangelt wird, es auch schafft, mit hunderttausenden von Flüchtingen fertig zu werden. Diesem Staat, die Zeit geben, die Strukturen dafür zu schaffen. Nicht zu erwarten, dass der Staat und die Gesellschaft auf jede Frage, vor allem auf große Fragen, sofort eine Antwort haben, sondern das auch manchmal Zeit braucht. Nicht jede Verunsicherung (auszu)nutzen, um das loszuwerden, was einem immer schon ein Dorn im Auge war. Zu wissen, dass die parlamentarische Demokratie manchmal ermüdend viel Zeit braucht, um was zu bewegen, dass sie es aber bisher noch immer geschafft hat, die richtigen Antworten zu finden. Das Selbstvertrauen haben, dass Deutschland und Europa sich zwar verbessern können und müssen aber trotzdem im Großen und Ganzen in Ordnung sind. Mehr als das: Dass wir mit unseren Freunden Erstaunliches geschafft haben und dass es keinen Grund gibt, zu glauben, dass wir das nicht nochmal schaffen.
Das ist nicht einfach. Aber so schwer ist es auch nicht. Nur ist Angst ein schlechter Ratgeber; vor allem in der Krise.