Ich habe derzeit viel in den USA zu tun. Ein großer Vorteil ist, dass ich meine Wochenenden in New York City verbringen kann. Auf der Fahrt vom Flughafen Newark nach Manhattan führt der Highway sehr nah an der Freiheitsstatue vorbei. Als ich sie das erste Mal (wieder-) sah, viel mir die Inschrift auf dem Sockel ein, die ich vor 20 Jahren im Politikunterricht während meines Austausches in Alabama hatte auswendig lernen müssen. (Und ja, ich konnte mich nur noch an die ersten zwei Zeilen erinnern, den Rest hb ich gegoogled)
„Keep, ancient lands, your storied pomp!“ cries she
With silent lips. „Give me your tired, your poor,
Your huddled masses yearning to breathe free,
The wretched refuse of your teeming shore.
Send these, the homeless, tempest-tossed to me:
I lift my lamp beside the golden door.“
oder, auf Deutsch:
„Behaltet, o alte Lande, euren sagenumwobenen Prunk“, ruft sie
Mit stummen Lippen. „Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten;
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
Hoch halt‘ ich mein Licht am gold’nen Tore!“
Ich weiß. Amerikanischer Pathos. Schwierig. Und doch trifft diese Strophe so den Kern der aktuellen Flüchtlingskrise in Europa. Wobei ich gar nicht von Krise sprechen will: Es ist eine Aufgabe. Noch mehr: es ist eine Chance. Dass wir Europäer nicht nur die – Entschuldigung – verdammte Pflicht haben, diesen Menschen zu helfen, sondern dass es auch in unserem urgeigensten Interesse ist, hat der Economist schon hervorragend zusammengefasst. Der Arikel geht auch auf den vollkommenen Blödsinn ein, dass wir in igendeiner Form mit den „Flüchtlingsmassen“ nicht fertigwerden könnten; viel ärmere Länder haben viel mehr Flüchtlinge aufgenommen.
Nein, es geht um etwas anderes und deswegen will ich auch nicht von Flüchtlingskrise sprechen, sondern von Chance. Das „Licht am gold’nen Tore“ aus dem Gedicht hat für Millionen von Auswanderen die Ankunft in einer besseren Welt bedeutet. Eine Welt, die sie mit geschaffen haben, eine Welt, die ohne all diese Einwanderer nie zur wirtschaftlichen, politischen und intellektuellen Supermacht aufgestiegen war. (Und ich will jetzt nicht diskutieren, was das im einzelnen bedeutet und wie das zu bewerten ist. Fakt ist: Die USA sind eine von Einwandern geschaffene Erfolgsgeschichte).
Ich will, dass wir begreifen, dass es nicht nur unsere Pflicht und unser Interesse ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist die Basis für unsere Zukunft. Ich weiß nicht, wie sie aussehen wird, aber ich weiß, dass sie besser sein wird als das heute.