Nach seinem Wahlsieg sieht sich Herr Tsipras dem Dilemma gegenüber, dass die Erfüllung seiner Wahlversprechen gar nicht von ihm, sondern von Dritten abhängt. In diesem Fall von der Troika und damit letztlich vor allem auch von uns, den Wählern in anderen Ländern. Die Linkspartei mag dabei von Entmachtung sprechen, aber wenn sich ein Staat über Mittel von Dritten finanziert, ist das ja seine freie Entscheidung. Wolfgang Schäuble brachte das ungewohnt präzise auf den Punkt:
„Es hat niemand ein Hilfsprogramm bekommen, der das nicht will, und wenn Herr Tsipras sagt, er will das nicht haben, dann ist das sehr gut, dann wird er andere Wege finden, die Probleme Griechenlands zu lösen.“
Auch eine demokratisch gewählte Regierung ist an Verträge gebunden, die ihre Vorgänger mit Dritten abgeschlossen haben. Genauso wie jede Versicherung ihre Policen aufrecht erhalten muss, auch wenn der Vorstand wechselt. Die Regierung hat zwar alles Recht der Welt, in Verhandlungen über Vertragsänderungen einzutreten, aber kein Recht darauf, dass der Vertragspartner darauf eingeht.
Wenn nun der Vertragspartner, wie im vorliegenden Fall, andere Regierungen oder überstaatliche Organisationen wie EZB und IWF sind, ist das ganz offensichtlich so: Man begegnet sich auf Augenhöhe, verhandelt unter Gleichen. Beide Partner haben eine Form demokratischer Legitimation, beide können Gesetze erlassen oder haben zumindest Richtlinienkompetenz.
Was aber, wenn der Vertragspartner kein Staat oder keine internationale Institution ist? Wenn er ein Privatmann oder ein Unternehmen ist? Wenn es sich um Vertragsparteien handelt, die diese Richtlinienkompetenz nicht haben? Müssen die sich der demokratisch legitimierten neuen Macht einfach beugen?
Nein, das müssen sie nicht. Denn ein Vertrag, den eine Partei entgegen aller Vertragsbestimmungen jederzeit kündigen kann, nur weil sie eine demokratische Regierung ist, ist nichts wert. Pacta sunt servanda – auch von Regierungen.
Nun ist es sicherlich auch nicht zielführend, dass diese Verträge immer und unter allen Umständen bestehen bleiben müssen. Dann stellt sich zwangsläufig die Frage, wer über die Modalitäten eines Auseinandergehens entscheidet. Wenn das Unternehmen im Vertrauen auf den Vertrag Investitionen getätigt hat: In welcher Höhe ist es zu entschädigen? Was ist hier angemessen?
Diese Frage können die Gerichte des Landes, das Vertragspartei ist, nicht entscheiden, da sie der Gesetzgebung dieses Landes unterliegen. Wenn die neu gewählte Regierung und mit ihr das Parlament den Vetrag nicht mehr wollen, könnten sie ja einfach per Gesetz entscheiden, dass er ohne jede Ausgleichszahlung endet. An diese Gesetze wären die Gerichte gebunden. Da sie Teil der einen Vertragspartei sind, können sie nicht über das Vertragsverhältnis entscheiden. Um bei unserem Beispiel der Versicherungpolice zu bleiben: Auch die objektivste Revisionsabteilung der Versicherung wäre ein schlechter Richter über Ausgleichzahlungen an einseitig gekündigte Kunden.
Genau deswegen braucht es die in Sachen TTIP so umstrittenen Schiedsgerichte. Es geht schlicht nicht ohne sie. Sonst gäbe es zwischen Staaten und Unternehmen keine Gerechtigkeit.
Damit ist übrigens nicht gesagt, dass die sehr intransparenten Schiedsgerichte, die in bestehenden Investorenschutzabkommen vorgesehen sind, die richtige Lösung sind: Sie sind es nicht. Aber die aktuelle Abneigung gegen Schiedsgerichte per se verfehlt das Ziel. Es geht nicht um das „ob“, es geht um das „wie“: Wie müssen die Schiedsgerichte aussehen, damit sie die Interessen sowohl der Unternehmens als auch des Staates berücksichtigen? Auf Basis welcher Grundlagen entscheiden sie? Und wie lassen sie sich transparent gestalten?
Das wäre die Frage, die zu diskutieren wäre. Vielleicht hilft es ja, dass sich die Deutschen nun nicht auf der Seite des kündigenden, sondern des (vielleicht) gekündigten Vertragspartners wiederfinden.