Ich mochte Angela Merkel lange Zeit nicht. Ihr zurückhaltender nicht-Führungsstil, ihr Abwarten und dann mit dem Strom schwimmen, ihr sich-eine-Krise-verschärfen-lassen-bis-mein-Weg-alternativlos-ist waren mir zuwider. Sie hatte oftmals die Wahl dazwischen, das Richtige sofort zu tun oder zu warten, bis es unausweichlich ist und ihr die Menschen zerknirscht zustimmen müssen. Sie hat sich fast immer für letzteres Entschieden. So ist die Eurokrise nicht entstanden, aber dreimal größer geworden als nötig.
Jetzt ist Angela Merkel „Person of the Year“ des Time Magazine. Weil sie in der Flüchtlingskrise führt. Weil sie Dinge tut, die in ihrer eigenen Partei nicht beliebt sind. Die aber richtig sind. Weil sie sich zwar lauten, aber arbiträren Forderungen (Obergrenze!) widersetzt. Weil sie ein klares Bild von einem offenen, pluralistischen Deutschland hat, das sie nicht tagespolitischen Erwägungen unterwerfen will.
Meine Partei, die FDP, reagiert darauf mit an Häme grenzender Kritik. Ich habe oft eine stärkere Abgrenzung der FDP gegenüber der CDU gefordert und halte die Fiktion eines einheitlichen „bürgerlichen Lagers“ nach wie vor für einen großen Fehler. Warum nun aber die Bürgerrechtspartei FDP ausgerechnet Merkels liberale Flüchtlingpolitik zum Stein des Anstoßes macht, ist unerklärlich. Persönlicher ausgedrückt: es ist schade und ein bisschen abstoßend. Es fehlt an intellektueller Tiefe, an der Auseindandersetzung mit der Frage, wie denn die Grundrechte, als deren Verteidiger sich die FDP gerne geriert, auch in dieser Krise ein Leitfaden für pragmatische Politik sein können. Es ist bezeichnend, das die FDP noch nicht mal erkannt hat, dass aus dem Grundrecht Freizügigkeit ein Dilemma für jede Einwanderungspolitik entsteht. Ein Dilemma, auf das eine liberale Partei eine Antwort finden müsste. Die FDP in der Flüchtlingskrise sieht noch nicht mal die Frage.
Angela Merkel hat auf die Flüchtlingkrise so reagiert, wie eine liberale Regierung reagieren müsste. Erstens mit einer klaren, in den Menschenrechten verankerten Vorstellung einer pluralistischen, humanen Gesellschaft in der jeder Flüchtling die Chance bekommen muss, seines eigegen Glückes Schmied zu werden. Zweitens mit der deutlichen Ansage, dass eine solche Krise nicht vom Staat alleine bewältigt werden kann. In Merkels „Wir schaffen das“ steckt eben nicht nur die Zuversicht, dass die Aufgabe bewältigt werden wird, sondern auch das Bewusstsein, dass es eine große Herausforderung ist und die Aufforderung an uns alle, an deren Bewältigung mitzuarbeiten. Drittens mit der Entschiedenheit, sich nicht auf irgendwelche Symbolpolitik (wiederum: die Obergrenze) einzulassen, sondern echte Lösungen zu erarbeiten. Auch wenn sie Zeit brauchen und sich unspektakulär in der Verwaltung eher denn in neuen Gesetzen verstecken. Viertens mit der Erkenntnis, dass es das Wesen einer Krise ist, dass sie für eine gewisse Zeit Chaos mit sich bringt. Kein vernünftiger Staat kann auf diese Krise vorbereitet sein. Ein Staat, der das wäre, wäre wirklich der ungebändigte Leviathan, der in vorauseilendem Gehorsam alle Eventualitäten regelt und dadurch seine Bürger auch im Letzten einschränkt. Fünftens und letztens, mit einer Politik vieler kleiner durchdachter Schritte, die unter Einbindung der europäischen Partner die Flüchtlingzahlen in Deutschland reduzieren, die Angekommenen besser verwalten und Wege zur Integration eröffnen. Eben das zu tun, was ein vernünftiger Staat tut, um eines unerwarteten Chaos‘ Herr werden.
Als Bürgerrechtspartei müsste die FDP erkennen, dass es ein Gebot der Menschlichkeit ist, Flüchtlinge aufzunehmen, egal wie viele kommen. Als Verfechter eines kleinen, schlanken Staates müsste die FDP wissen, dass die mehreren gezielten und kleinen Maßnahmen besser wirken und weniger Leviathan-esk sind, als die eine große Regulierung (Obergrenze). Sie müsste in die Initiative des Einzelnen vertrauen, an der Bewältigung der Krise mitzuwirken. Sie müsste das Chaos nicht zur zulassen, sondern erklären, dass es eine zweifellos unschöne Konsequenz ebenso zweifellos richtigen Handelns ist.
Sie müsste die Größe haben, liberale Politik zu begrüßen, auch wenn sie von anderen gemacht wird. Und sie muss wissen, dass der ohnehin mit der Marke FDP hadernde Wechselwähler diesen inneren Widerspruch spürt.