Während ich an meinem längeren, grundsätzlichen Post über Qualtätsjournalismus schreibe, legt der SPIEGEL eine Geschichte über einen Betrugsfall im eigenen Haus offen. Eine gute Gelegenheit, am konkreten Beispiel über Qualitätsjournalismus nachzudenken.
Das Problem ist nicht, dass es diesen Betrugsfall gibt. Das ist unvermeidlich. Der SPIEGEL agiert nach eigenem Bekunden in oben verlinktem Artikel so, wie Organisationen eben agieren. Er vertraut seinem Mitarbeiter – hier einem Claas Relotius, der wunderbare Geschichten schreibt. Er schafft Kontrollmechanismen – hier durch eine Dokumentationsabteilung, die die Fakten – soweit wie möglich – überprüft. Das ist bis hierhin unproblematisch. Schon problematischer ist, dass der SPIEGEL seinen Mitarbeiter zum Star werden lässt (er hat wohl etliche Preise bekommen) und den Star zunehmend weniger hinterfragt. Aber, so problematisch das sein mag, es ist „normal“. Das passiert überall sonst auch: In Unternehmen (Martin Winterkorn), in Fußballclubs (Uli Höneß), in Parteien (Angela Merkel 2005, Oskar Lafontaine 1998 und Guido Westerwelle 2009).
Das Problem ist auch nicht wirklich, wie der SPIEGEL reagiert; auch wenn das schon deutlich problematischer ist, als dass es überhaupt passiert. Respekt verdient der SPIEGEL dafür, dass er es selbst offenlegt. Das „Wie“ dieser Offenlegung ist aber schon deutlich weniger respektwürdig: Der SPIEGEL reagiert wie auch sonst jede Organisation, die bei irgendwas ertappt wird: Im Halbsatz wird eine umfassende Untersuchung gefordert um dann en Detail auseinanderzulegen, dass es das Verhalten eines einzelnen Individuums war und die Organisation damit zu exkulpieren.
Zusammengefasst: Es gibt einen skandalösen Vorfall beim SPIEGEL, für den der SPIEGEL sich selbst gegenüber viel Nachsicht und Verständnis an den Tag legt. Für mich ist das in Ordnung. Ich halte es erstens für unausweichlich (nicht für gut, aber eben für unausweichlich), dass in Organisationen solche Fehler passieren. Und ich halte es zweitens für normal und menschlich (wiederum: nicht für gut, aber eben für normal und menschlich), dass die Menschen in dieser Organisation, dann zusammenrücken und den Fehler von sich weisen und auf das Individuum zeigen. Das tun sie ja nicht aus böser Absicht, sondern weil sie wissen und überzeugt sind, dass es eben einer von tausend Fällen ist, in dem es schiefgeht. Dass sie es tausendmal richtig machen, dass der Kontrollmechanismus tausendmal greift und dass dann der eine Fehler in der Öffentlichkeit breitgetreten wird.
Für mich ist der zentrale Satz im der Offenlegung des SPIEGEL:
Der Journalismus unterliegt, wie alles, um ein Wort von Heinrich von Kleist zu leihen, der „Gebrechlichkeit der Welt“.
Wie wahr.
Und das ist für mich das Problem – hier im konkreten und im Qualitätsjournalismus allgemeinen: Das Verständnis und die Nachsicht für die „Gebrechlichkeit der Welt“, die der SPIEGEL hier für sich beansprucht fehlt bei Journalisten jeder Couleur allzuoft, um nicht zu sagen: vollständig.
Die Medien leben von Fehlern, von skandalösen Vorfällen, von echten Skandalen von Politikern und Parteien, Managern und Unternehmern und Prominenten und Vereinen. Und sie erzählen diese. Das ist auch in Ordnung.
Was nicht in Ordnung ist, dass die Medien erstens (fast) ausschließlich über die negativen Dinge (eben Fehler, skandalösen Vorfälle und Skandale) berichten. Und zweitens, wie sie das tun, nämlich (fast) immer mit dem Zuweisen von Schuld und in dem Tenor, dass der Vorfall die Regel und nicht die Ausnahme wäre.
Qualitätsjournalismus braucht dringend die Umsetzung der obenstehenden Erkenntnis, dass eben alles der „Gebrechlichkeit der Welt“ unterliegt. Dass Fehler in 99 von 100 Fällen Fehler sind, und keine böse Absicht. Und dass, auch wenn einzelne Politiker und Manager sich zweifelsohne falsch verhalten, das eben nicht die Regel ist. Denn die einzigen Gewinner dieser Story sind die Populisten.
Nachtrag:
Ich habe hier jetzt bewusst versucht, eben nicht den Fehler zu machen, den ich den Medien und Journalisten vorwerfe: zu moralisieren und mit wahnsinnig hohen Ansprüchen zu arbeiten. Trotzdem der Hinweis auf den aus meiner Sicht deutlich besseren Umgang mit falschen Stories bei „This American Life“ von NPR: https://www.thisamericanlife.org/460/retraction.